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Daniela Pillgrab

Körper inszenieren nach Sozialistischem Realismus und Peking Oper: Mei Lanfang in der Sowjetunion

daniela.pillgrab[at]univie.ac.at

1935 ist jenes Jahr, in dem in Deutschland die Nürnberger Gesetze beschlossen werden, die Kommunisten in China unter der Führung von Mao Zedong ihren „langen Marsch“ marschieren, der Berliner Funkturm das weltweit erste reguläre Fernsehprogramm ausstrahlt, Antonin Artaud in Paris einen Text über Orientalisches und Abendländisches Theater verfasst und Iosif Stalin in Moskau der sowjetischen Kinematographie zum 15. Jahrestag ihres Bestehens gratuliert, während erste Schauprozesse inszeniert und angebliche Systemkritiker ermordet werden. In dieser politisch höchst brisanten Zeit lädt die Allunionsgesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland den chinesischen Frauenrollendarsteller Mei Lanfang zu einem  vierwöchigen Gastspiel in die Sowjetunion. Bedeutende Persönlichkeiten der Theater- und Filmszene (u. a. Wsewolod Meyerhold, Alexander Tairow, Konstantin Stanislawski, Sergej Eisenstein und Bertolt Brecht) sind anwesend, als der Peking Oper-Schauspieler seine Kunst präsentiert.

Im Spannungsfeld großer Ideologien treffen mit Mei Lanfang auf der einen und Vertretern europäischer performativer Künste auf der anderen Seite nicht nur differente Theater- und Performancekonzepte, sondern vor allem auch sehr gegensätzliche Körperbilder aufeinander: die Vorstellungen in der chinesischen Kultur davon, was ein Körper ist, scheinen einem europäischen Verständnis und insbesondere den Ansichten des stalinistischen Systems der Sowjetunion diametral entgegengesetzt zu sein. Die Möglichkeiten ästhetischer Verfahrensweisen zur Ausgestaltung inszenierter Körperbewegungen unterliegen stets gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Richtlinien, wie gleichermaßen auch die Wahrnehmung inszenierter Körperbewegungen vom jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld her bestimmt wird. Zwischen gesellschaftlichen Determinationen und künstlerischen Ausdrucksformen
besteht ein Wechselverhältnis, woraus der Schluss gezogen werden kann, dass Performances, die den menschlichen Körper in den Mittelpunkt stellen,
Gesetzmäßigkeiten einer Körperpolitik sichtbar machen.

Mein Dissertationsprojekt gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil soll den historische Rahmen eröffnen: unter dem Motto Inszenierung einer neuen Welt: Die Sowjetunion im Jahr 1935 werden hier Texte und Kontexte diskutiert, das heißt, es soll ein möglichst breiter Überblick über die Ereignisse geschaffen werden, welche Zeit und Ort rund um das Gastspiel von Mei Lanfang prägten. Hilfreich bei dem Vorhaben, Zeit, Ort und Handlung zusammenzudenken, ist der von Michail Bachtin geprägte Begriff des Chronotopos, der „Raumzeit“. In einem zweiten Teil werden Ausdrucksformen, Körperkonzepte und Bewegungsmodelle aus westlichen und östlichen Kulturen und Theaterformen, die beim Gastspiel von Mei Lanfang 1935 aufeinandertrafen, analysiert und einander gegenübergestellt. Was die Untersuchung von Begrifflichkeiten (z. B. (‚weiblicher’) Körper) betrifft, so bietet die Foucaultsche Diskursanalyse ein nützliches Instrumentarium. Ein möglicher Transfer, eine Kunstgriffwanderung nicht-alltäglicher Körpertechniken zwischen Peking Oper und Sozialistischem Realismus, wird im dritten Teil des Dissertationsprojektes verhandelt. Hierfür soll historisches Quellenmaterial (Texte, Briefe, Protokolle) zerlegt und untersucht werden. Dies impliziert die Ermittlung möglicher Konsequenzen der interkulturellen Begegnung für Theorie und Praxis des europäischen Theaters. Diskutiert werden soll hier aber auch die Frage, inwiefern die Reflexionen über die Spielweise in der Peking Oper Selbstreflexionen der eigenen Ideen der Europäer waren.

Mei Lanfangs Gastspiel, das sich sozusagen am Vorabend der Moskauer Prozesse ereignete, erscheint aus heutiger Sicht als ein kurzer Augenblick in der Theatergeschichte, an dem die alte Garde der Avantgarde ihre einstigen Ideen und Ziele unter dem Druck immer stärker werdender politischer Repression anhand der Betrachtung einer anderen Schauspielkunst noch einmal – womöglich ein letztes Mal – aufgreift, diskutiert und neu denkt. Meine Arbeit bedient sich daher des Gastspiels von Mei Lanfang gleichsam als eines Sprungbretts, um Körperkonzepte und Körperbilder verschiedener Kulturen in einer Zeit totaler Einverleibung der Künste durch totalitäre politische Systeme unter die Lupe zu nehmen. Unter diesem Gesichtspunkt interessiert mich der Austausch zwischen Vertretern europäischer und chinesischer Darstellungsformen und seine Folgen für Theorie und Praxis des europäischen Theaters. Der Fokus meiner Forschungsperspektive richtet sich daher auch auf die Ermittlung möglicher Konsequenzen der interkulturellen Begegnung von 1935.

 



 


Daniela Pillgrab

Lebenslauf

Seit 10/2007 Fellow am Initiativkolleg Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung, Universität Wien

01/2007 – 04/2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Don Juan Archiv Wien, Forschungsverlag

05/2006 Beginn Doktoratsstudium der Philosophie

01-12/2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Da Ponte Institut Wien

12/2005 Magistra der Philosophie; Thema der Diplomarbeit: Zeigen ist mehr als Sein. – Bertolt Brecht und die chinesische Schauspielkunst, Betreuerin: ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Meister

2004/2005 Tutorin bei ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Meister zur Vorlesung Theater der Weimarer Klassik und der Romantik

1999-2005 Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an den Universitäten Wien und Bologna

Auslandsaufenthalte

07-09/2006 Forschungsaufenthalt in Peking (Zentrale Theaterakademie, Beijing Theatre Association), Stipendium für kurzfristige wissenschaftliche Arbeiten im Ausland (KWA)

2002 Auslandssemester am Dipartimento di Arte, Musica e Spettacolo (DAMS) in Bologna

Veröffentlichungen

Fremdheit und Verfremdung. In: Programmheft der Inszenierung Der Gute Mensch von Sezuan von Bertolt Brecht, Regie: Ong Keng Sen, Landestheater Linz, Premiere: 26. September 2009, S. 20-21.

Lorenzo Da Ponte’s Work for the Stage During his Time as a Librettist in Vienna. In: Michael Hüttler [Hg.]: Lorenzo Da Ponte. Maske und Kothurn, Internationale Beiträge zur Theater-, Film, und Medienwissenschaft, 25. Jg., Heft 4. Wien: Böhlau, 2007.

Rezensionen

Gissenwehrer, Michael: Chinas Propagandatheater 1942-1989. München: Herbert Utz Verlag 2008. (Veröffentlicht bei [rezens.tfm]:
http://rezenstfm.univie.ac.at/rezens.php?action=rezension&rez_id=66)

Gissenwehrer, Michael/ Kaminski, Gerd (Hg.): In der Hand des Höllenfürsten sind wie alle Puppen. Grenzen und Möglichkeiten des chinesischen Figurentheaters der Gegenwart, München, Herbert Utz 2008 (Veröffentlicht bei [rezens.tfm]: http://rezenstfm.univie.ac.at/rezens.php?action=rezension&rez_id=58)

Moderation

Shen Lin, Central Academy of Drama, Peking: "Welcome Back my Concubine! Female Impersonation in Different Times and Cultures." Vortrag am 20.10.2009, TFM Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien


Inszenierung von "Weiblichkeit". Zur Konstruktion von Körperbildern in der Kunst.
Tagung im Tanzquartier, am 22. bis 24. Jänner 2010Organisation: Muv4/8 (Daniela Pillgrab, Barbara Alge, Marina Rauchenbacher, Christine Erhardt und ao. Univ.-Prof.in Dr.in Pia Janke) 

Presse

Sozialistischer Realismus und Peking Oper.
Online-Zeitung der Universität Wien, am 25.08.2009

Initiativkolleg Sinne-Technik-Inszenierung
c/o Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft
Universität Wien

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