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Valerie Deifel

Ästhetik der Leerstelle: Darstellung und Funktion des Inkommensurablen im Film

valerie.deifel[at]univie.ac.at

Eine „Ästhetik der Leerstelle“ verankert sich in einer Disziplin, die sich mit dem in­kom­mensurablen Verhältnis von logischem Begriff und sinnlicher Wahrnehmung, von Er­kenntnis und Empfinden sowie von Allgemeinem und konkreten Einzelfall be­fasst. Gilles Deleuze zufolge müssen „die Bedingungen der Erfahrung überhaupt zu Bedingungen der wirklichen Erfahrung“ werden, um dem Kunstwerk den Status eines ‚wirklichen Experimentierens’ zu geben und um die divergenten Bereiche der Ästhetik zu­sammen zu führen.[1]

Unter dieser Prämisse zeichnet den Film ein besonderes Verhältnis zur Wahrnehmung aus: Realität wird nicht selbst dargestellt, sondern die Abständigkeit zu dieser (Stanley Cavell); oder es lässt sich ein „Mehr“ an Realität erzeugen als jene Spanne, welche die Wirklichkeit von Traum oder Halluzination trennt (Jean-Louis Baudry). In der Kino­theorie Deleuzes ist der Film nicht allein ein Modell für eine subjektzentrierte Wahr­nehmung, seine Referenz wäre das dezentrierte Universum als Materiestrom, als der „Meta-Film“. Die Wahrneh­mung, das Auge des Subjekts, ist in den Film und seine Bilder verlegt.[2]

Im Rahmen des Dissertationsprojekts sollen folglich Filme untersucht werden, welche als Wahrnehmungsexperimente auftreten, gewohnte Perspektiven reflektieren und ver­schieben. Leerstellen im Film sind variable und unbesetzte Orte, die etwas Abhandenes anzeigen können. Es sind ebenso Bereiche, an denen ein/e RezipientIn Ergänzungen vornimmt und sich in die Erzählung einschreibt. Der Platzhalter der Leerstelle wird als eine strukturelle Funktion verstanden und kann mit Medientheorie und poststrukturalistischen Theorien in verschiedenen Begriffen und Systemen beschrieben werden: z.B. als Spatium (Friedrich Kittler), Différance (Jacques Derrida), Inter­vall/Dazwischen (Deleuze) sowie als Öffnung (Umberto Eco). Mit diesem begrifflichen Verständnis lassen sich Repräsentationstypen herausarbeiten, wie Leerstellen in Filmen aufscheinen können. Der Filmkorpus schließt strukturelle Experimentalfilme ein, sowie die etwas weiter gefasste Kategorie des Autoren­films – Filme, die von der Bezugnahme auf das eigene Verfahren geprägt sind, in denen Theorie und Filmpraxis in einem be­sonderen Naheverhältnis stehen. Neben der Beschäfti­gung mit der Darstellung von etwas möglicherweise Nicht-Repräsentierbaren sollen Funktionen der Leerstelle be­handelt werden. Intervalle und Zwischenräume dienen dazu, die quantitative Zahl der Bilder, Texte und Töne in qualitative Intenstitätsspitzen überzulei­ten, den Funken für Affekt und Denken zu zünden. Eine Leerstelle kann weiters als eine Störung eingesetzt werden, um die Repräsentationsebene zu unterbrechen und auf die Ma­terialität des Me­diums zu verweisen, der „Film als Film“ als Tautologie seiner Physis. Oder die Funk­tion der Leerstelle liegt darin, auf menschliche Wahrnehmung einzu­wirken, bzw. diese in eine Wahrnehmung des Films und deren technische Überschreitung aufzulösen.

Zusammenfassend ist das, was als Leerstelle bezeichnet wird, selbst ein Platzhalter. Ein Spannungsfeld, das durch seine Pole bestimmt wird, aber selbst nicht ist oder bedeutet, und als Variable einer Funktion besetzt wird. Die Leerstelle entzieht sich einer quanti­tativen Messung, ist eine Schaltstelle zu metaphysischen Qualitäten.

 


[1] Vgl. Gilles Deleuze: „Platon und das Trugbild“. In: Logik des Sinns. Hrsg. v. Karl H. Bohrer. Frankfurt a. M. 1993, S. 318.

 

[2] Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a. M. 1997, S. 86-90.


 


Valerie Deifel

Lebenslauf

Seit 12/2009 Assistentin der Abteilung Angewandte Mediengestaltung – Art & Science Visualization an der Universität für angewandte Kunst, Wien

8/2008-1/2010 Kunstvermittlung/Führungen bei WestLicht: Schauplatz für Fotografie, Fotomuseum/Wien

Seit 10/2007  Fellow am Initiativkolleg Sinne – Technik – Inszenierung: Medien und Wahrnehmung, Universität Wien
Promotionsthema: Ästhetik der Leerstelle: Darstellung und Funktion des Inkommensurablen im Film

2007  Magistra der Philosophie, Thema: Narration und Illusion: Experimentalfilme und Videos von John Smith, Prof. Dr. Monika Meister

2000-2007 Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft im Hauptfach sowie der Philosophie im Nebenfach an der Universität Wien

Veröffentlichungen

Powell, Anna (2007): Deleuze. Altered States and Film. Edinburgh, Edinburgh University Press. Veröffentlicht bei [rezens.tfm]: www.univie.ac.at/film/php/rezension/rezens.php?action=rezensentInnen&rezin_id=40

"Die Leerstelle in Film und Wahrnehmung". In: Wentz, Daniela/Wendler, Andre (Hrsg.; 2009): Die Medien und das Neue. 21. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium. Marburg, Schüren. S. 195-208.

Vorträge

“The blink of an eye: Spacing (‘espacement’) and interval in film”
NECS-Konferenz 2009: Locating Media (European Network of Cinema and Media Studies), Lund,  25.-28.6.2009.

"Leerstellen im Bewegungsbild: Kognitionspsychologische Überlegungen zur Filmwahrnehmung"21. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium, Weimar, 17.-20.3.2008.


Initiativkolleg Sinne-Technik-Inszenierung
c/o Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft
Universität Wien

Hofburg - Batthyanystiege
A-1010 Wien
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